„Eines Tages um die Mittagszeit, ich war auf dem Weg zu meinem Boot, entdeckte ich zu meiner großen Verwunderung am Strand, im Sand deutlich zu erkennen, den Abdruck eines bloßen menschlichen Fußes. Ich stand da wie vom Donner gerührt oder wie nach einer Geistererscheinung. Ich lauschte, ich schaute mich um, aber ich konnte weder etwas hören noch etwas sehen, ich stieg auf eine Anhöhe, um einen besseren Überblick zu haben, ich ging am Strand auf und ab, aber es blieb dabei: Es gab nur diesen einen Fußabdruck.“ (1)
Alle seine Sinne setzt Robinson Crusoe in diesem kurzen Ausschnitt aus dem bekannten Roman von Daniel Defoe ein, um mehr über seinen bedeutsamen Fund zu erfahren. Trotz der großen Aufregung: Zunächst bleibt es bei der Spur am Strand, direkt am Rand, an der Grenze der Insel, von der er nicht wegkommt. Der Mensch, der hier seine Spuren hinterlassen hat, kommt vielleicht gar nicht von dieser Insel und ist für Robinson Crusoe somit unerreichbar.
Nichtsdestotrotz macht diese Spur etwas mit ihm. Es ist nachvollziehbar, dass er mehr über sie wissen möchte. Bei Robinson Crusoe ist dieses Interesse überlebenswichtig, aber auch heute lösen Spuren von Menschen, die für uns eigentlich unerreichbar sind, große Aufregung aus: 2018 wurde hier im Museumspark in Kalkriese eine ganz besondere Spur gefunden: Ein fast vollständiger römischer Schienenpanzer! Die Reaktionen von den Personen, die vor Ort dabei waren, aber auch die Zeitungsberichte aus der Zeit hören sich fast so an wie im Roman von Dafoe, so groß war die Aufregung.
Aber warum eigentlich? Direkt zu Beginn unserer Sonderausstellung „Cold Case. Tod eines Legionärs“ ist zu sehen, was da ursprünglich 2018 aus dem Boden geholt wurde. Ein Rostklumpen. Im Hier und Jetzt. Erst ein spezieller Umgang mit diesem Fund ermöglicht es, ihn als Spur der Vergangenheit zu behandeln. Dafür haben alle historischen Wissenschaften (wie z.B. die Geschichtswissenschaft, die historisch-philologischen Wissenschaften oder eben die Archäologie) bestimmte Methoden entwickelt. Die Archäologie interessiert sich dabei vor allem für Spuren aus dem Boden: Nicht nur Objekte können dabei solche Spuren sein, genauso interessant sind auf bestimmte Weise zusammengesetzte Erdschichten oder organische Überreste.
Am Beginn des archäologischen Wegs zur Geschichte steht – zumindest, wenn es um Objekte geht – die Restaurierung. Der Rostklumpen wird zur „Spur“, indem er lesbar gemacht wird. Rost wird abgetragen, die Originaloberfläche wird wieder sichtbar und das ‚Vergangene‘ am Objekt ist als solches wieder zu erkennen: Die Funktion der Schnallen, die Form der Platten, ihre ursprüngliche Anordnung usw.
Nachdem das Material zugänglich gemacht worden ist, folgt die historische Einordnung. Wenn wir von „Geschichte“ sprechen, dann meinen wir nicht irgendeine, im luftleeren Raum umherschwebende Geschichte, sondern die Geschichte: Eine zeitliche Folge von Ereignissen, Personen und Objekten, die bis in die Gegenwart (und darüber hinaus in die Zukunft) reicht, aber genauso einen bestimmten Anfangspunkt sucht. In unserer Ausstellung versuchen wir den römischen Schienenpanzer in die Geschichte der europäischen Rüstungen einzuordnen. Alles hat seinen Platz. Und so ist auch der Schienenpanzer nicht nur ein Schienenpanzer, weil an seinem Material im ersten Schritt viele einzigartige Details festgestellt worden sind, sondern auch weil wir Unterschiede im Vergleich zu anderen Rüstungen aus anderen Kulturen und Zeiten feststellen können.
Zu guter Letzt: Welche Bedeutung hat der Schienenpanzer? Eine einfache Aneinanderreihung verschiedenster Beobachtungen macht noch keine Geschichte aus. Hier betreten wir den Bereich der Deutungen und Hypothesen. Anhand der vorhandenen Hinweise entwickelt sich hier eine Geschichte rund um den Schienenpanzer. Die Herausforderung und das eigentlich unmögliche der Archäologie wird hier besonders deutlich: Mit absoluter Sicherheit werden wir es nie wissen können. Wie Robinson Crusoe stehen Archäologen am Rand der zugänglichen Welt. Uns bleiben nur die Fußabdrücke. Zeitreisen sind noch nicht erfunden worden und bis dahin müssen Ideen entwickelt werden, wie sie wohl aussah, die Vergangenheit. In unserer Ausstellung zeigen das die beiden Hypothesen zum Schienenpanzer: Haben wir es mit den Überresten eines Siegesrituals oder mit Hinweisen auf zufällig gesteuerte Auswahlprozesse bei der Plünderung zu tun? Beide Geschichten entwickeln sich, Argumente werden ausgetauscht und Ideen werden aufgegriffen, verworfen oder modifiziert. Geschichte wird so auch relevant für die Gegenwart und die Zukunft: In unserem Fall ermöglicht sie es, über das an den Rüstungen erkennbare menschliche Sicherheitsbedürfnis zu sprechen, über die Gewalt, die Menschen sich auch nach kriegerischen Auseinandersetzungen noch gegenseitig antun nachzudenken, oder Klischees über Plünderungsprozesse abzustreifen. Am Ende steht eine Geschichte, die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft miteinander verbindet:
„Tatsächlich kehrt der Historiker, der die Ufer seiner Welt besucht hat und wie Robinson ‚erschüttert‘ […] wurde, verändert, aber nicht schweigend zurück." (2) So drückt es der französische Historiker Michel de Certeau aus. Die Geschichte, sie wird, wenn der Historiker oder Archäologe nicht schweigt zum Gesprächsstoff: Unsere Sonderausstellung zeigt nicht nur, wie dieser Gesprächsstoff entsteht, sondern soll dazu anregen, mitzureden, mitzuüberlegen und mitzuerzählen. Obwohl der Sommer schon vorbei ist, laden wir Sie also herzlich ein, der Archäologie an den „Strand“ zu folgen und sich gemeinsam von den dort zu findenden Spuren irritieren, anregen und faszinieren zu lassen.
(1) Daniel Defoe, Das Leben und die außergewöhnlich erstaunlichen Abenteuer des Seefahrers Robinson Crusoe [1719], übersetzt von Rudolf Mast, Hamburg 2019, S. 201.
(2) Michel de Certeau, L‘absent de l’histoire (Repères. Sciences humaines – idéologies), Paris 1973, S. 179.
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